Der Umzug

Die Zweizimmerwohnung in Berlin kostete mich 2500 Euro Einstand, dann war ich eine eingetragene Genossin und verpackte meine alte Wohnung in Umzugskartons. Auf in ein neues Leben.
Drittes Obergeschoss, Balkon zur Hauptverkehrsstraße, die Antenne eines Amateurfunkers auf dem Dach direkt über der neuen Wohnung, mein Gott, man lebte eben in Berlin und schöne und erschwingliche Wohnungen waren rar.
Ich renovierte, ich kaufte preiswerte Self-Made-Möbel bei Ikea, ich stellte meinen selbst zusammengehämmerten Schreibtisch mit Blick aufs Hinterhofgrün direkt vors Fenster. Schlafzimmer, Wohnzimmer, große Küche, gekacheltes Bad - die dicken Kabel, die von der langen Funkantenne auf dem Dach direkt vor dem Küchenfenster baumelten, übersah ich geflissentlich. Die Antenne gehörte Funkamateur K. im Erdgeschoss, einem blinden Mann um die fünfundzwanzig, dem ich wohl kaum begreiflich machen konnte, wieso mich der Anblick von drei Kabeln störte.
Außerdem hatte ich andere Sorgen. Ich war in jenem Jahr arbeitslos, und der Umzug hatte meine dürftigen Ersparnisse bis auf den letzten Cent aufgefressen. An Beschäftigung hingegen mangelte es mir trotz Arbeitslosigkeit nicht. Ich schrieb an meinem ersten Buchmanuskript. Ich hatte bereits mehrfach in Anthologien veröffentlicht und pflegte trotz meines fortgeschrittenen Alters von fünfundvierzig Jahren die Vorstellung, eines Tages mein täglich Brot als selbständige Schriftstellerin zu verdienen. Und warum auch nicht? Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Ich schrieb Krimis. Dass ich selbst plötzlich die Hauptperson in einem Krimi werden würde, fiel mir in meinen kühnsten Träumen nicht ein.
Die Kopfschmerzen und die Schlaflosigkeit stellten sich erst drei Wochen nach meinem Einzug ein, dann allerdings völlig unvermittelt von einem Tag zum anderen. Nachts zerwühlte ich, auf der Suche nach einer Mütze Schlaf, verzweifelt mein Bett, tagsüber quälten mich bohrende Kopfschmerzen und, von Zeit zu Zeit, so heftige Ohrenschmerzen, dass ich zusammenzuckte. Ernsthafte Sorgen begann ich mir zu machen, als ich es immer seltener schaffte, meinen Flur zwischen Bad und Küche hinunterzugehen, ohne rechts oder links die Wände zu streifen. Über Nacht war mir offenbar mein Gleichgewicht abhanden gekommen, dafür kämpfte ich morgens und bei Einsetzen der bohrenden Kopfschmerzen gegen plötzliche Übelkeit an. Wollte ich lesen, verschwammen die Buchstaben vor meinen Augen.
Nach Wochen stillen Leidens und dem Nachschlagen in einschlägigen medizinischen Werken kam ich zu dem Schluss, ernsthaft erkrankt zu sein.
Gehirntumor, was sonst?, dachte ich und schwankte den Flur hinunter. Sag Tschüß zum Leben!
Da ich Ärzten gegenüber ein gesundes Misstrauen hegte, konzentrierte ich mich verbissen aufs Schreiben und versuchte Kopfschmerzen und Übelkeit zu verdrängen. Wenn ich schon demnächst sterben musste, wollte ich doch wenigstens meinen zukünftigen Bestseller (einschließlich des letzten Kapitels) mit ins Grab nehmen.
Ich ignorierte die blauen Flecken an meinen Armen und die gräulichen Flecken dort an der Flurtapete, wo sie und ich aneinander rempelten. Ich ignorierte, nachts senkrecht im Bett zu sitzen, kribbelig vom Scheitel bis zur Sohle. Ich trank literweise Schlaf- und Nerventees. Einzuschlafen halfen sie mir nicht, dafür schwankte ich doppelt so oft aufs Klo, und meine blauen Flecken vermehrten sich.
"Gehirntumor, Quatsch", behaupteten die Mitglieder meiner Familie mit enervierender Hartnäckigkeit. "Du bist arbeitslos, du hast Geldsorgen - ergo ist alles psychisch. Geh unter die Leute, betätigte dich sportlich."
Ich trat dem Sportverein bei und hüpfte zweimal die Woche mit wirbelnden Armen und Beinen auf einem Step herum, während mich die Aerobic-Trainerin anbrüllte, weil alle anderen in der Gruppe in einem anderen Takt hüpften und wirbelten. Ich stieg von der U-Bahn aufs Fahrrad um, im Winter drehte ich an den Wochenenden auf Schlittschuhen meine Runden. Das Resultat meiner körperlichen Verausgabung stellte sich rasch ein: ich fiel abends groggy ins Bett und ratzte weg. Dummerweise wachte ich nach einer Stunde wieder auf und saß den Rest der Nacht senkrecht auf dem Laken, kribbelig vom Scheitel bis zu den Sohlen.
Eines Morgens quälte ich mich stöhnend von meinem Leidenslager, doch statt der gefühlten Uhrzeit von 7 Uhr morgens zeigte meine Funkuhr 14 Uhr nachmittags an.
Wow, dachte ich, du musst im Morgengrauen wohl doch noch weggeduselt sein. Prima, weiter so!
Ich rief die Arztpraxis an, bei der ich mich für den Tag wegen meiner Schlaf-, Seh- und sonstigen Probleme notgedrungen nun doch angemeldet hatte und entschuldigte mich halbherzig für mein Verschlafen.
"Wieso?", fragte die Sprechstundenhilfe erstaunt. "Ihr Termin ist um halb zehn. Das schaffen Sie locker. Es ist man gerade erst viertel vor acht."
Ich startete die Funkuhr neu, wechselte die Batterien und siehe da: es war viertel vor acht. Doch sollte dieser Vorfall kein Einzelfall bleiben. In den nächsten Wochen verpasste ich mehrere Termine, weil meine Funkuhr offenbar ein Nachtleben führte, von dem ich nichts mitbekam. Mit nervenaufreibender Hartnäckigkeit weigerte sie sich immer öfter, mir morgens die mitteleuropäische Zeit anzuzeigen. Ich schlug im Atlas die Seite mit den Zeitzonen auf. Statt auf 7 Uhr morgens MEZ stand meine Funkuhr auf 14 Uhr westaustralischer Zeit oder auf 1 Uhr nachts New Yorker Zeit. Im Laufe der nächsten Wochen hüpfte sie zwischen Deutschland, Saudi-Arabien, Kanada, Madagaskar und China wahllos hin und her.
Des Rätsels Lösung war einfach: im Erdgeschoss wohnte ein Funkamateur, der die Funkantenne direkt über meiner Küche bediente, und meine Uhr war eine Funkuhr. Sie empfing ganz einfach von der falschen Antenne das falsche Signal. Ich kaufte mir einen herkömmlichen Wecker.
In der gleichen Zeitspanne bekam ich arge Probleme mit meinen Zahnnerven, die über Stunden hinweg aufs heftigste zuckten. Während sich der Zahnarzt noch ratlos am Kopf krazte, starben mir nacheinander zwei Zähne ab. Alarmiert bewilligte mir ein Hals-, Nasen-, Ohrenarzt nun doch eine Computertomographie. Das Resultat ließ mich die Arztpraxis mit gemischten Gefühlen verlassen, auch wenn die Erleichterung überwog. Kein Kopftumor, doch leider blieb den Ärzten und mir die Ursache meiner Symptome weiterhin ein Rätsel. Ich lief noch immer gegen Wände und wusste nicht warum.
Irgend wann jedoch fiel mir plötzlich auf, dass all meine Beschwerden abrupt endeten, sowie ich meine Wohnung verließ. Keine Kopfschmerzen, keine zuckenden Zahnnerven, keine Übelkeit, keine Sehstörungen, dafür traumlose Tiefschlafs, sobald ich in der Wohnung von Bekannten nächtigte.
Menschen sind im Gegensatz zur Tierwelt physiologisch eher Fehlkonstruktionen und vielleicht, im Vergleich aller Lebewesen im Gesamtuniversum nicht besonders helle. Jedenfalls dämmerte mir erst nach den Zeitsprüngen meiner Funkuhr und nach der Erkenntnis, dass sich all meine Beschwerden in der freien Natur oder in fremden Wohnungen in Luft auflösten, etwas von meinen Krankheitsbildern könnte womöglich mit der Funkantenne über meinem Kopf und den ungeschützten Kabeln vor meinem Küchenfenster zusammenhängen.
Ich erinnerte mich dunkel an den Physikunterricht. Bauten sich nicht um stromgespeiste Anlagen elektromagnetische Felder auf, die sich ausdehnten oder schrumpften, je nachdem, wie hoch die Leistung der fraglichen Anlage war? Sandte und empfing nicht eine Funkantenne Strahlung unterschiedlicher Wellenlängen, die dieses Feld speisten? Konnte es nicht sein, dass im Überschneidungsbereich beider elektromagnetischer Felder, dem von der Antenne und dem von den Kabeln, der menschliche Körper sein Gleichgewicht verlor und gegen die Flurwände krachte? Wenn der Funkamateur im Erdgeschoss nächtlings bis Australien oder Amerika Grüße versandte und empfing, musste da nicht die Leistung der Antenne schon groß sein?
"Sofort umziehen, aber dalli!", forderte eine Freundin resolut, nachdem ich ihr meine Vermutungen anvertraut hatte.
"Und wovon?", fragte ich zurück und stülpte mein leeres Portemonnaie um.
Ich war nach wie vor arbeitslos, und Ruhm und Reichtum als Schriftstellerin hatten sich ebenfalls noch nicht eingestellt.
"Dann wehr dich!", erwiderte die Freundin.
Erst einmal wählte ich den menschlichsten aller Wege: ich floh. Zumindest tagsüber entkam ich Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit, Zähneabsterben und Gegen-Wände-Laufen, indem ich mir meinen Laptop unter den Arm klemmte und mir zwischen neun Uhr morgens und neun Uhr abends einen Arbeitsplatz in der Staatsbibliothek am Potsdamer Platz erkämpfte.
An die Schlaflosigkeit gewöhnte ich mich in dem Maße, in dem man sich an Folter gewöhnt: gar nicht. Ich wurde zum wandelnden Zombie, und wenn ich morgens am Küchentisch frühstückte, und sich die dicken Kabel vor dem Fenster im Wind bewegten, klappte in meinen unruhigen Händen eine imaginäre Heckenschere auf und zu.