Die Flucht

Ich zog zwei Straßen weiter. Auf die Schnelle war das die einzige Wohnung, die ich finden und mir vor allem leisten konnte. Ein Zimmer mit Minibalkon und einer Spüle von Anno Dazumal.
Um die Ereignisse eines halben Jahres zusammenzufassen: „zwei Straßen weiter“ reichte nicht, um irgendwen loszuwerden, schon gar nicht einen Pulk aufgebrachter Funker samt Freunden, die sich zu gnadenlosen Rächern des Antennenvolks berufen fühlten. Das Programm lief nach Schema F ab: anonyme Anrufe, nächtliches Türklingeln, außerhäusiger Begleitschutz durch böse blickende Herrn, Wohnung unter „Beschuss“. Wandernde warme Flecken, Schweißausbrüche, stechende Kopfschmerzen, Herzprobleme. Ich hatte seit zwei Jahren nicht mehr richtig schlafen können, man ließ mich auch hier nicht - eine beliebte Foltermethode nicht nur in Guantánomo Bay. Das Gesetz nennt es Körperverletzung.
Körperlich hatte ich nichts mehr zuzusetzen, mental versuchte ich verzweifelt, nicht den Verstand zu verlieren. Nach nur einem halben Jahr gab ich auf.
Ich lieh mir erneut Geld, ich zog erneut um, und diesmal richtig weit weg! Raus aus Berlin, rein ins Weserbergland. Hameln war mein Ziel, eine nette, mäßig große Stadt an der Weser. Hier war ich aufgewachsen, hierhin floh ich zurück, als nichts mehr ging. Drei Zimmer unter dem Dach in einem Haus, das man als gut bürgerlich bezeichnen möchte. Steintreppen, Reinigungsdienst, Genossenschaftseigentum. Zwei Rentner-Ehepaare Anfang/Mitte sechzig, zwei alte Damen, die anderen in etwa in meinem Alter. Freundliche, entgegenkommende Nachbarn, doch eigentlich wollte ich nur zufrieden gelassen werden. Ich verzichtete sogar auf ein Namensschild an der Tür und starrte jeden misstrauisch an, der mich allzu freundlich grüßte. Ein gebranntes Kind, das sich ins Schneckenhaus zurückzieht und unauffällig seiner Wege geht.
Von Berlin aus hatte ich mir schon eine neue Telefonnummer besorgt, eine, die ich nur hinter vorgehaltener Hand weiter gab - mündlich an Verwandte und Bekannte, schriftlich an Behörden. Ich ließ mich weder ins Telefonbuch eintragen noch erwähnte ich die Nummer in Telefongesprächen.
„Freu dich“, sagte Uwes Tantchen energisch. „Jetzt ist alles vorbei. In Hameln bist du in Sicherheit. Hameln ist nicht Berlin.“
War ich das? In Sicherheit? Tief in mir gab es zwar ein Fünkchen Hoffnung, aber es glomm nur. Eine Flamme wurde nicht daraus.
Eine Woche nach meinem Einzug nahm mich eine Nachbarin auf der Straße zur Seite, neigte mir ihr Ohr zu und wisperte: "Und jetzt erzählen Sie mir mal, warum Sie wirklich umgezogen sind." Ich murmelte die übliche Rechtfertigung von wegen Großstadtmüdigkeit, aber in diesem Moment erkannte ich, die Nachbarschaft wusste bereits Bescheid. Meine Geschichte war mir vorausgeeilt, doch angesichts der bleibenden Freundlichkeit der Nachbarn glomm das Fünkchen Hoffnung ein klein wenig stärker.
Doch nur wenige Tage lang. Ich telefonierte gerade, als plötzlich der Boden unter meinen Füßen merklich wärmer wurde und das bekannte Ganzkörperkribbeln einsetzte. Die Elektrosmogwolke hatte mich wieder, nur war ich diesmal ratlos, woher sie kam. Mir schien, als stünde die Energiequelle irgendwo unter mir, aber das konnte nicht sein. Eines der Rentner-Ehepaare wohnte dort, passionierte Kleingärtner, die sich zwar allzu lebhaft für alles interessierten, was mich betraf - „Wo wollen Sie hin?“ „Wo kommen Sie her?“ - mit Sicherheit aber keine Kriminellen waren, denen es Spaß machte, Leute zu quälen.
Das Spiel begann von neuem, doch diesmal musste ich durchhalten. Funker und ihre Freunde gibt es in ganz Deutschland, und wer ab und an einen Blick auf die Hausdächer wirft, wird erstaunt sein, wie engmaschig das Netz der Funkantennen ist, das unser Land überzieht. Womit ich keinesfalls alle Funkamateure oder CB-Funker zu Kriminellen abstempeln möchte, die nichts Sinnvolleres zu tun haben als ihre Nachbarn zu terrorisieren. In meinem Fall jedoch hatte irgendwer von Berlin aus ein gut funktionierendes Netzwerk aufgebaut, mir das Leben zur Hölle zu machen. Kein Einzelfall, wie ich später erfahren sollte.
Nachdem ich die ersten Nächte heulend wach gelegen und mit meiner Panik gekämpft hatte, stellte ich ein Fitnessprogramm auf die Beine. Ich gewöhnte mir an, mit dem Fahrrad eine Runde über die Dörfer zu drehen, um meine tiefschwarze Depression und meine Schlaflosigkeit in den Griff zu bekommen. Eins stand fest - diesmal würde ich mich nicht vertreiben lassen. Ich wählte die Vogelstraußmethode: Kopf in den Sand. Alles um dich herum ignorieren, niemandem gegenüber ein Sterbenswörtchen, viel Sport, Arbeit suchen, und ansonsten so tun, als hättest du ein Leben.
Eine Weile ging’s gut. Die Nachbarn blieben freundlich, ich fühlte mich zumindest in meinem Haus gut aufgehoben und willkommen. Als der Wasserzulauf meiner Waschmaschine zweimal kurz hintereinander undicht wurde (obgleich ich ihn von einem Fachmann hatte installieren lassen) dichtete ihn der nette Nachbar von unten ab und bot mir auch seine Hilfe in der Wohnung an, sollte ich sie jemals benötigen.
Nachts lag ich wach und grübelte darüber nach woher die Wolke kam. Doch von unten? Falsche Antwort! Warum sollten sich die Nachbarn dermaßen verstellen? Warum sollten sie mich auf der einen Seite herzlich willkommen heißen, auf der anderen Seite aber gnadenlos quälen? Wenn dem wirklich so wäre, dann gab es hierauf nur eine Antwort: das Quälen machte ihnen Spaß.
Nein, dachte ich entschieden. Bis hierher und nicht weiter. Deine Wahrnehmung täuscht dich und du leidest unter Verfolgungswahn. Denk an Uwes Tantchen: du lebst jetzt in Hameln und Hameln ist nicht Berlin. Wahrscheinlich bist du durch den Berlin-Horror einfach nur sensibilisiert für Elektrosmog, und das beste Mittel dagegen ist viel Bewegung in frischer Luft und positives Denken.
Diese Taktik funktionierte so einigermaßen, bis mir eine Wohnung im Wohnblock schräg gegenüber auffiel. Dort saß ein junger Mann - Halbprofil zu mir - stundenlang am Fenster und starrte auf etwas, das ich nicht sehen konnte. Auffällig war nicht der junge Mann an sich sondern, dass er sich ein paar Stunden später in einen anderen jungen Mann verwandelt hatte und noch ein paar Stunden später wiederum in einen anderen. So ging es tagsäber, so ging es auch nachts.
Da ich nicht annnahm, dass sich Al Qaida mittlerweile in Hameln niedergelassen hatte und mir gegenüber eine konspirative Wohnung betrieb, blieb nur die Assoziation zu den Schichtwechseln auf dem Berliner Dachboden. Damals war ich nachts manchmal auf den Balkon geschlichen und hatte zugesehen, wie die Kerle mitten in der Nacht nach ihrem " Dienst" aus dem Nachbareingang kamen und müde nach Hause trotteten.
Eines Nachts lugte ich schlaflos aus meinem Fenster. Dem jungen Mann gegenüber schien kalt geworden zu sein, er hatte sich in eine Decke gewickelt. Als ich das Licht anmachte, wickelte er sich hektisch aus seinen Umschlingungen, knipste die matte Funzel der Nachttischlampe aus und wetzte aus dem Zimmer.
Seltsame Reaktion, dachte ich vage, steckte meinen Kopf jedoch sofort wieder in den Sand. Vogel Strauß eben.
Ich radelte verbissen über die Dörfer, ignorierte die Autofahrer, die mich hupend überholten oder rufend aus dem Fenster hingen. Ein paar hatten ein CB im Nummernschild, was mir zu denken gab. CB-Funker? Ich versuchte meine Panik unter Kontrolle zu halten und murmelte zehn Mal pro Tag den Spruch von Uwes Tantchen vor mich hin: Hameln ist nicht Berlin.
Oder etwa doch?
Die anonymen Anrufe setzten etwa vier Wochen nach meinem Einzug ein. Das Muster war mir nur allzu bekannt: das Telefon klingelte, ich ging ran, der Anrufer meldete sich nicht, legte jedoch auch nicht auf. Bis auf einen. Dieser eine sprach, wenn auch ein wenig undeutlich, da er offenbar getrunken hatte.
„Sowas lassen wir Funker uns nich’ gefallen“, nuschelte er in den Hörer. „Das ham schon andere gemerkt. Ich hoffe, du hast nicht’s mehr vor in dein’m Leben.“
Nach den ersten zweihundert Anrufen kaufte ich mir ein Telefon mit Display und Anruferkennung und begann diejenigen zurückzurufen, die vergaßen, ihre Rufnummern unterdrücken zu lassen.
"Ich kenn' Sie doch gar nicht", stotterte der erste Angerufene panisch." Ganz bestimmt weiß ich nicht, wie meine Nummer auf Ihr Display kommt."
Nach dem dritten Rückruf hörten die anonymen Anrufe abrupt auf.
Toll, freute ich mich. Eins zu null für dich.
Dann saß ich eines Tages am Schreibtisch und starrte auf die autoleere Kreuzung unter mir. Ich hatte in den Giebelfenstern meiner Dachgeschosswohnung weder Gardinen noch Jalousien. Nach meinem lautlosen, versteckten Dasein in den Berliner Wohnungen wollte ich mich Hameln offen präsentieren. Ich hatte nichts zu verbergen, ich wollte am Leben teilnehmen. Direkt in die Fenster sehen konnte mir ohnehin niemand, auch der Wohnblock mit den wechselnden jungen Männern stand versetzt zu meinem. Vom Schreibtisch aus hatte ich einen tollen Blick über die kleine Siedlung hinweg, auf die geschwungenen Bergzüge des Wesergebirges. Abends bestaunte ich die herrlichen Sonnenuntergänge.
Doch an jenem Tag wurde mein Blick von jemandem auf sich gezogen, der unter mir winkend mitten auf der Kreuzung stand. Seltsamerweise winkte er mir zu. Ich schaute ihn mir genauer an und wäre um ein Haar vom Stuhl gefallen.
Es war der Elektriker aus Berlin, der mich eines Tages mit seiner Werkzeugtasche in der Hand auf der Straße vor dem Haus höhnisch grinsend gefragt hatte, wie er wohl am besten auf den Dachboden käme. Obgleich ich zwei schwere Einkaufstüten trug, versperrte er mir viel länger als nötig den Weg ins Haus, und in der Folgezeit begegnete er mir noch einmal, als er aus der Wohnung des Funkers kam, der zu dem Zeitpunkt längst umgezogen war. Was das Auftauchen dieses Mannes in Hameln für mich bedeutete, darüber mochte ich erst gar nicht nachdenken.
Mir schien, als sei er geradewegs aus unserem Haus gekommen, doch da täuschte ich mich sicherlich. Es konnte nur der Wohnblock gegenüber sein. In meinem Haus wohnten die Netten, die Bösewichter hatten sich, wenn überhaupt, gegenüber einquartiert.
Die Zeichen kommenden Ärgers mehrten sich, doch treu meinem Motto Augen zu und durch ignorierte ich sie, so gut es eben ging.
Da ich keinen Stress im eigenen Haus wollte, und die Nachbarn unter mir sofort ihren Fernseher lauter stellten, als ich meinen das erste Mal einschaltete, kaufte ich mir im Media Markt einen Funkkopfhörer und fiel, trotz guter Vorsätze, in mein altes Rollenverhalten zurück. Wieder bewegte ich mich mehr oder weniger lautlos in meiner Wohnung. Fernseher nur über Kopfhörer, kein Radio, die Nachbarn von unten „beschwerten“ sich nun mehrfach darüber, dass man mich gar nicht mehr höre. Ich bildete mir sogar ein, einmal weniger warme Füße zu bekommen und in einer Elektrosmogwolke abzutauchen, sobald ich wieder in der Lautlosigkeit versank.
Als Sichtschutz für gegenüber legte ich mir Jalousien mit Lamellen zu, die sich nahtlos verstellen ließen. Die Wohnung mit dem Männer-Schichtwechsel lag eine Etage tiefer als meine eigene. Eines Tages zog ich im Schlafzimmer die Jalousien hoch, um Fenster zu putzen, und ein Mann auf dem Balkon eben jener Wohnung wurde auf die Bewegung aufmerksam. Sein Kopf fuhr herum, einen Moment lang starrten wir uns an, dann rannte er in die Wohnung zurück und warf die Tür hinter sich zu. Im nächsten Moment knallten seine Jalousien runter.
Viel auffälliger ging es nun nicht mehr, doch selbst zu diesem Zeitpunkt suchte ich noch nach einer anderen logischen Erklärung für sein Erschrecken.
Gewissheit bekam ich ein paar Wochen später, als ich in der dunklen Ecke des Zimmers gegenüber einen Fernseher stehen sah, der zwar an und beleuchtet war, aber offenbar nur ein Standbild zeigte. Neugierig blickte ich genauer hin. Ich erkannte den spitzen Giebel eines Hauses mit zwei Fenstern. Hinter dem rechten Fenster waren Jalousien runtergelassen, hinter dem linken Fenster stand eine Person und starrte zu mir herüber. Ich hob zaghaft eine Hand zum Winken, die Person auf dem Fernseher hob ebenfalls zaghaft eine Hand zum Winken. Ich sah mich selbst. Irgendwo hinter den Jalousien der übrigen, zur Wohnung gehörenden Fenster musste eine Kamera installiert sein, die mein Dachgeschoss unter Beobachtung hielt. Kein Wunder, dass mich die Elektrosmogwolke so zielsicher traf. Es gibt keine Jalousien, die so dicht sind, dass kein Lichtschimmer nach draußen dringt.
Ich gewöhnte mir an, mich hauptsächlich in den beiden Zimmern an der Längsseite des Hauses aufzuhalten. Unser Häuserblock steht, wie schon erwähnt, ein wenig versetzt zum Block gegenüber, und ob eins meiner Dachfenster zur Längsseite erleuchtet war, konnte man von bewusster Wohnung aus nicht sehen.
Seltsamerweise fand mich die Elektrosmogwolke trotzdem.
Es war ein warmer, freundlicher Sommer und Herbst, ich genoss meine Fahrradtouren, auch wenn ich öfter einen anderen Fahrradfahrer, junger Mann mit bösem Blick, am Hinterrad hatte, der mir bis ins nächste Dorf folgte (Überholen, Ausbremsen, Überholen, Ausbremsen). Ich ignorierte ihn und dehnte meine Touren auf dem Weserradweg bis Bodenwerder oder sogar bis Polle aus, während er gewöhnlich nach zehn Kilometern aufgab. Sobald ich auf Radwegen neben Straßen fuhr, ging das Gehupe wieder los. Nach und nach lernte ich die entlegendsten Stellen des Weserberglandes kennen.
Richtig gut ging es mir, als ich mit dem Fahrrad für ein paar Tage den Mittellandkanal entlang fuhr und dann an der Elbe runter bis Magdeburg. Es waren die einzigen Tage in dem Jahr, wo mir niemand folgte, mich niemand anhupte, ich keine Kamera auf mich gerichtet wusste und mich keine Elektrosmogwolke piesackte.
Als ich wiederkam, putzte ich mit neuer Energie mein Fahrrad auf dem Rasen vor dem Haus. Im Nachbareingang ging die Haustür auf, ein Pärchen kam die drei Stufen herunter. Die junge Frau musterte mich kurz, stieß ihren Begleiter an und sagte laut und verächtlich: "Das ist sie, die bescheuerte Frau aus Berlin."
Die Wirklichkeit hatte mich wieder und ich einen Spitznamen dazu. Die bescheuerte Frau aus Berlin, das sollte ich in den nächsten Monaten noch mehrfach hören. Ein Halbwüchsiger, der seinen Freund auf mich aufmerksam machte, hob sogar einen Stein auf und warf ihn nach mir.
Was früher so wichtig für mich gewesen war - die Meinung anderer über mich - war schon seit langem nebensächlich geworden. Ich igelte mich in einem Kokon ein und wollte nur noch meine Ruhe haben. Doch nach wie vor stand eins für mich fest. Umziehen kam nicht mehr in Frage. Ich durfte und wollte mich nicht noch einmal aus einer Wohnung vertreiben lassen.
Ich hatte mich damals mit einer Unterschriftenaktion gegen einen Funker gewehrt, als ich keinen anderen Ausweg mehr sah. Mit viel gutem Willen kann ich noch nachvollziehen, warum mich daraufhin dessen Kumpels nach alttestamentarischem Vorbild – Auge um Auge, Zahn um Zahn – aus meiner Wohnung vertrieben, obgleich ich das Wie, massive Körperverletzung, keineswegs verstehe. Da daraufhin eine Pattsituation eingetreten war – ich hatte den Funker vertrieben, die Funker hatten mich vertrieben – müssten wir eigentlich doch, so dachte ich zumindest, quitt sein.
Ich bin dem blinden Funker nach seinem Umzug nie wieder begegnet. Ich habe ihn in keiner Weise mehr kontaktiert, nicht einmal, als mich seine Freunde nach seinem Auszug munter weiter terrorisierten.
In Hameln gibt es in Sichtweite meiner Wohnung zwei Funkantennen auf Hausdächern, fünfzig bzw. hundert Meter entfernt. Ich reagiere nicht auf sie, aber selbst wenn ich es täte, würde ich mich nach den Berliner Erfahrungen tunlichst hüten, auch nur ein Wort darüber verlauten zu lassen.
Mit anderen Worten, ich habe mich nur ein einziges Mal und nur in Berlin gegen einen Funkamateur gewehrt.
Warum also diese gnadenlose Verfolgung über Jahre hinweg? Warum die Androhung, sie für den Rest meines Lebens fortsetzen zu wollen? Ist es der Kick, in der Anonymität einer großen Meute unerkannt quälen zu dürfen? Die Macht, mit seinem Wissen Elektronik als lautlose Waffe einsetzen zu können? Schockierend ist vor allem die Akribie und die Begeisterung, mit der sich die Hamelner an dieser 24-Stunden-Überwachung beteiligen. Wenn ich Verwandte, Freunde oder Bekannte besuche, steht während dieser Zeit auch deren Wohnung "unter Beschuss", egal, ob sich hinter den Wänden ein Säugling, eine Kranke oder jemand mit Herzschrittmacher befindet. Auch meine Verwandten bekamen in der ersten Zeit nach meinem Umzug anonyme Anrufe.
Die Beschimpfungen auf offener Straße verstärkten nur noch den Eindruck eines auf lange Sicht hin angelegten Rachefeldzugs. Kurz bevor oder kurz nachdem ich nach Hameln zog, hatten die Berliner, in Co-Operation mit den Hamelnern, ganz offensichtlich keine Mühe gescheut, eine Rufmordkampagne zu starten, der einige Nachbarn Glauben schenkten.
Eines Abends öffnete ich eins der Dachfenster an der Längsseite des Hauses. Auch nach hier raus gab es zweistöckige Wohnblocks, aber mir war nie etwas für mich Bedrohliches aufgefallen. Diesmal jedoch fiel mein Blick in ein Zimmer im Haus genau gegenüber. Ein junger Mann saß an einem Schreibtisch, mit dem Rücken zu mir und starrte auf seinen Computermonitor. Vom Bildschirm leuchtete mir das rote Dach eines Hauses entgegen. Eines der Dachfenster stand offen und eine Frau lugte heraus. Ich. In dem Moment, in dem ich aus dem Fenster blickte, erschien ich natürlich auch auf dem Computermonitor direkt vor den Augen des jungen Mannes. Einen Moment lang fürchtete ich, er bekäme vor Schreck einen Herzschlag, so gewaltig zuckte er zusammen. Unmittelbar darauf versuchte er den Bildschirm hektisch mit seinem Körper zu verdecken und zog, als alles nichts half, den Stecker des Computers heraus, bevor aus dem Raum floh.
Die Überwachung des Hauses hatte sich weiter ausgedehnt. Von zwei Wohnungen aus ließen sich nun die drei Hausseiten, hinter denen meinen Wohnung liegt, problemlos überwachen. Hinter welchem Fenter brennt Licht, welches Fenster steht offen? Es scheint, als hätte der Zufall dafür Pate gestanden, dass ich mich gleich auf zwei verschiedenen Monitoren sah. Doch mittlerweile war das zweite Jahr meines Hamelnaufenthaltes angebrochen, und so ist es wahrscheinlich auch nur eine Frage der Zeit gewesen. Vielleicht fühlten sich die Jungs auch zu sicher. Sie agierten in der Gemeinschaft, ich war das ideale Opfer, das sich nicht wehrte, was also konnte passieren?
Meine Funkkopfhörer ließen sich zu diesem Zeitpunkt nur noch schwer auf die Fernsehfrequenz einstellen. Dafür empfing ich in Überlautstärke Radioprogramme und schrille Rückkoppelungen, sowie ich den Kopf wendete. Spazierte ich mit den Kopfhörern durch meine Wohnung, knallte es hier und da gewaltig.
Im Frühjahr 2006 fand ich endlich Arbeit und war die meiste Zeit unterwegs, so dass meine Not zuhause ein wenig in den Hintergrund rückte. Zumindest war ich tagsüber abgelenkt. Solange die netten Rentner unter dir wohnen, dachte ich mir auf dem Nachhauseweg so manches Mal, kannst du es irgendwie aushalten. Du musst es aushalten!
Nach wir vor ignorierte ich alles, was von der Norm abwich. Das gleichmäßige Knacken im Telefon während meiner Gespräche, das irgendwann in ein einmaliges Klicken überging, wobei die Stimme meines Gesprächspartners kurz verschwand, bevor sie wieder zu hören war und ich die Frage beantworten musste, auf welche Taste ich denn nun schon wieder gekommen sei. Ich ignorierte die Männer, die noch immer am Fenster gegenüber Wache hielten, die Elektrosmogwolke, die mir durch die Wohnung folgte, ich ignorierte sogar, kein Leben mehr zu haben. Nur ab und an, wenn mich die Panik im Würgegriff hatte, dachte ich an eine Handvoll Schlaftabletten und wie leicht es wäre, dem allen ein Ende zu setzen.
„Alles, was geschieht, hat auch etwas Gutes“, pflegt Uwes Tantchen zu sagen, und vielleicht versteckt sich darin tatsächlich ein Körnchen Wahrheit. Ich bin stärker geworden, geistig wie körperlich, und ich bin bereit, um meine Zukunft zu kämpfen. Zu verlieren habe ich nichts mehr.
Der Sommer verging, im Herbst fuhr ich ein Wochenende an die Ostsee.
Das dritte Jahr meines Hamelnaufenthalts brach an. In der Wohnung und im Umfeld blieb alles beim Alten, mit der kleinen Einschränkung, dass mir irgendwann ein metallisches Klicken in gerade dem Zimmer auffiel, in dem ich mich aufhielt. Wohn-, Schlaf-, Arbeitszimmer – es klickte sogar im Flur, manchmal als Einzel-, manchmal als Doppelklick, aber immer klang es so, als schalte sich irgendwo ein Gerät ein. Nur konnte ich nicht orten, woher es kam. Über den Ursprung der Elektrosmogwolke rätselte ich ebenfalls weiter herum. Noch immer traute ich meiner Wahrnehmung nicht, und die behauptete nach wie vor: direkt von unten!
Mittlerweile war die ältere Damen, die in der Wohnung im ersten Stock wohnte, ins Pflegeheim gekommen und die Wohnung stand leer. Hoffte ich jedenfalls. Manchmal, wenn ich wusste, die netten Nachbarn unter mir waren verreist und ich trotzdem die halbe Nacht hindurch das Knarren von Holzdielen hörte, wurde ich ausgesprochen nachdenklich. Stand sie tatsächlich leer, die Wohnung oder hatten sich dort ebenfalls schon Mitglieder des Netzwerks eingenistet.
Ausgesprochen stutzig wurde ich, als eines Nachts kurz vor Mitternacht mein Telefon klingelte. Ich lag schon im Bett, las aber noch. In meiner Wohnung und in den Wohnungen unter mir war es mucksmäuschenstill. Die Nachbarn waren verreist. In diesem Moment eben klingelte mein Telefon, und so deutlich, wie ich das Klingeln im Nebenraum hörte, so deutlich hörte ich unter mir einen unterdrückten Ausruf und das Verrücken eines Stuhls. Irgend ein Jemand hatte sich gewaltig erschrocken. In einer Wohnung, die angeblich leer stand.
Von diesem Zeitpunkt an begann ich meine unmittelbare Umgebung aufmerksamer zu betrachten und das, was ich hörte und sah zu analysieren. Mir fiel auf, wie oft ich vor der Wohnungstür jemandem begegnete, der mich nach dem Wohin fragte. Eines Tages hörte ich, schon halb auf der Kellertreppe, wie sich im Haus eine Wohnungstür öffnete und eine Frauenstimme sagte: "Das kannst du mir später erzählen, ich muss mal kurz raus, Frau M. will weg." Dann stapfte sie hinter mir die Kellertreppe hinunter und fragte: „Na Frau M., wo soll’s denn hingehen?“
Es wunderte mich bald nicht mehr, dass mich die Jungs mit den bösen Gesichtern in Rinteln oder Bodenwerder schon erwarteten, sobald ich vom Fahrrad stieg. In Minden fuhr auf einem einsamen Feldweg ein Auto, das mich überholt und dann gewendet hatte, einen beherzten Schlenker in meine Richtung, als wollte der Fahrer sagen, wenn ich wollte, dann könnte ich ohne weiteres. In der Folgezeit gewöhnte ich mir an Rinteln zu sagen, wenn ich nach Bodenwerder wollte und zum Baumarkt ins Industriegebiet, wenn’s zum Aldi ins Neubaugebiet ging.
Eigentlich hätte damit alles klar sein müssen - für mich, meine ich. Aber noch immer sträubte ich mich vehement gegen die Vorstellung einer Beteiligung meines unmittelbaren Umfeldes an dieser Treibjagd. Ich fühlte mich der Realität nicht mehr gewachsen und bekam Schwierigkeiten, Geschehnisse logisch einzuordnen und mit ganzer Tragweite zu akzeptieren. Mein Gehirn hatte seine eigene Überlebensstrategie entwickelt, schirmte meinen Verstand ab und ließ die Wirklichkeit nur noch tröpfchenweise durchsickern.
Der Sommer wurde turbulent. Die Arbeit nahm fast meine ganze Zeit in Anspruch, selbst an den Wochenenden, und sobald ich nach dem Wohin oder Woher gefragt wurde, log ich das Blaue vom Himmel hinunter.
Die Schlaflosigkeit blieb weiterhin mein größtes Problem.
"Probier mal, den Strom im Schlafzimmer abzuschalten", riet mir Uwe am Telefon. "Vielleicht geht’s dann besser mit Morpheus."
Mein Sicherungskasten hängt außerhalb meiner Wohnung im Hausflur. Ein alter Holzkasten mit klemmender Tür. Es gab sechs Sicherungen, vier links und zwei rechts des Sicherheitsschalters in der erhöhten Mittelkonsole. Ich probierte sie alle durch und kam zu einem überraschenden Ergebnis.
Ich rief Uwe zurück. "Sag mal, ist das normal, das Bad, Flur und Küche an einer Sicherung hängen? Dafür habe ich einen Schalter, an dem hängt überhaupt nichts."
"Eigentlich nicht", beschied er mich verblüfft. "Kann’s sein, dass du dich geirrt hast?."
Ich probierte es noch dreimal aus. Bad, Küche und Flur hingen gemeinsam an einem Schalter.
„Ruf die Genossenschaft an.“, riet Uwe.
Die Genossenschaft anzurufen erwies sich als überflüssig. Am nächsten Abend, als ich von der Arbeit kam, testete ich die Sicherungen noch einmal durch. Siehe da: jetzt hingen nur noch Küche und Flur am selben Schaltkreis, das Bad hatte einen eigenen bekommen, rechts vom Sicherungsschalter. Wie sich bestimmte Probleme doch durch ein einfaches Telefonat regeln lassen.
Ein paar Tage später wollte ich eine neue Deckenlampe im Wohnzimmer anbringen. Erneut testete ich die Sicherungen durch und stellte überrascht fest, dass zwar alle Lampen im Wohnzimmer, nicht aber alle Steckdosen an einem Schaltkreis hingen. Die Steckdose direkt neben der Tür hatte noch immer Strom. Sie hing am Schaltkreis, der zum Flur gehörte. Hätte ich diese Steckdose auswechseln wollen, ohne den Strom jeder einzelnen Steckdose gesondert zu überprüfen, hätte ich einen Schlag bekommen, vielleicht sogar einen tödlichen.
Ich rief Uwe an und schilderte ihm aufgebracht die Sachlage.
"Ruf die Genossenschaft an", riet er mir erneut.
Ich ließ mir die Sache während der Arbeit am nächsten Tag durch den Kopf gehen, da mir noch immer der Ärger mit der Berliner Genossenschaft im Kopf herumspukte, doch am selben Abend hatte sich auch dieses Problem ohne mein Zutun erledigt. Plötzlich hingen nicht nur alle Lampen sondern auch alle Steckdosen an nur einem Schaltkreis. Wieder hatte ich die Sachlage allein mit Uwe und ausschließlich Telefon besprochen. Stimmte meine Befürchtung? Hatte ich tatsächlich Mithörer in der Leitung?
Schockierender noch empfand ich die Ereignisse wenig später. Über dem Spiegel im Badezimmer hängt ein schwaches Zwanzig-Watt-Halogenlämpchen mit einem zwischengeschalteten Trafo. Dieses Lämpchen begann kurz nach meinem Einzug zu flackern. Anfangs nicht immer, dann aber immer öfter und schließlich ununterbrochen. Ich wechselte die Birne aus, ich überprüfte die Anschlüsse. Die Lampe flackerte munter weiter. Als Uwe nun eines Nachmittags aus Hildesheim zu Besuch kam, zeigte ich ihm das flackernde Lämpchen.
"Besorg dir einen neuen Trafo und eine neue Lampe. Sollte die neue Lampe dann ebenfalls flackern, kannst du davon ausgehen, dass sich jemand in deine Stromleitung eingeklinkt hat." War es möglich, über Stromleitungen zu funken, fragte ich mich irritiert. Das Internet sagte ja.
Danach gingen Uwe und ich lange spazieren. Wieder zurück verabschiedete ich Uwe unten auf der Straße. Ich hingegen stiefelte seufzend die Treppen wieder hoch und knipste im Bad das Licht an. Hallelujah, ein Wunder war geschehen! Das Lämpchen, das zwei Jahre lang geflackert hatte, flackerte nicht mehr und hat bis heute nicht wieder damit angefangen. Uwe und ich hatten im Badezimmer gestanden, als er mir den Rat mit der neuen Lampe gab. Musste ich jetzt davon ausgehen, dass ich nicht nur einen Mithörer im Telefon hatte sondern auch, dass irgend jemand hören konnte, was in meiner Wohnung gesprochen wurde?
In Berlin waren mir die Idioten auf dem Dachboden gefolgt, sobald ich das Zimmer wechselte. Ich hatte ihre Schritte auf der Holzdecke hören können. Als ich über ein nicht existentes Handy ein fingiertes Telefongespräch führte, waren mir drei Tage lang die Freunde des Funkers auf Schritt und Tritt gefolgt. Dort hatte ganz offensichtlich jemand gehört, was ich so in meiner Wohnung trieb. Nun auch in Hameln? Doch wie hörte man von außen Wohnungen ab? Die Sache war und blieb mir ein Rätsel.
Hatte ich jemals meinen Wohnungsschlüssel aus der Hand gegeben, wenn ich übers Wochenende verreiste? Nein, niemals! Oder war ich doch einmal schwach geworden? Dann fiel es mir ein. Natürlich: kurz vor meinem Wochenendtrip im vergangen Herbst an die Ostsee, hatte mich ein gewisser Jemand regelrecht bedrängt. Alle gäben ihre Schlüssel ab, wenn sie verreisten, nur ich eben nicht.
"Was, wenn es einen Wasserrohrbruch gibt? Was, wenn Feuer ausbricht?"
Er hatte mich in einem schwachen Moment erwischt. Ich war müde, ich war groggy, ich gab ihm dem Schlüssel. Für vier lange Tage. Das war zu einer Zeit gewesen, bevor ich auch meiner unmittelbaren Umgebung gegenüber misstrauisch wurde. Jetzt lauschte ich dem Klicken im Telefon, ich lauschte dem Klicken in den Räumen meiner Wohnung und mir kamen ungute Gedanken. Was, so fragte ich mich, klickt da und vor allem wo? Das Geräsch ließ sich einfach nicht orten.
Jetzt wurde mir wirklich mulmig zumute.
Ich fuhr zum Baumarkt und kaufte ein neues Wohnungsschloss. Im Media Markt besorgte ich mir ein neues Telefon. Ein schnurloses Telefon. Der Himmel mochte wissen warum, aber in meiner Panik bildete ich mir ein, schnurlose Telefone seien sicher.
Später am selben Tag saß ich gerade im Wohnzimmer und trank eine Tasse Kaffee, als mich plötzlich eine sonore Männerstimme laut und deutlich auf Englisch aufforderte, ihm die Landeerlaubnis auf dem Hannoverschen Flughafen zu erteilen. Um ein Haar hätte ich vor Schreck unter der Decke gehangen. Eine Antwort des Towers gab es nicht mehr. Während ich auf die Füße sprang und hektisch zu suchen begann, hörte ich von der Zentrale der Hamelner Polizei den Einsatzbefehl an einen Streifenwagen, sich direkt zur neuen Weserbrücke zu begeben, dort gäbe es einen Stau wegen eines Auffahrunfalls. Dann war auch dieses Gespräch weg, und Sekunden später beschrieb ein Funkamateur einem anderen die Leistungsmerkmale seiner Funkanlage.
Der Lautsprecher, aus dem all dies schallte, war schnell gefunden. Mein Radiowecker. Der Radioteil war an, was ich nicht gemerkt hatte, weil der Zeiger genau dort am Ende der Skala stand, wo kein Programm mehr empfangen werden konnte. Stattdessen empfing er ganz offensichtlich den Empfang von etwas, was eigentlich nur ein Funkscanner sein konnte. Während ich den Radiowecker noch ganz verblüfft anstarrte, setzte irgendwo unter mir Fußgetrappel ein. Zufall oder nicht, aber mit einem Mal war der Spuk vorbei.
Sollte irgend jemand in meiner Umgebung einen Funkscanner besitzen?
Ich recherchierte ein wenig im Internet. Funkscanner, so erfuhr ich, werden hauptsächlich von Funkamateuren und CB-Funkern genutzt. Sie scannen mit großer Geschwindigkeit die Funkfrequenzen über die gesamte Bandbreite aller zugelassenen Frequenzen ab, und halten einen Moment im Suchlauf inne, sobald sie Funkverkehr gefunden haben. In Gesprächspausen nehmen sie den Suchlauf wieder auf, es sei denn, man drückt die sogenannte Hold-Taste. Das erklärte das rasche Nacheinander von Pilot, Polizist und Funkamateur in meinem Radiowecker. Niemand hatte die Hold-Taste gedrückt.
In manchen Fällen, so erfuhr ich weiter, hören Reporter, denen es vor nichts mehr graut, den Polizeifunk ab, um am Tatort zu sein, solange die Leiche noch warm ist.
Was, so fragte ich mich, konnte man mit einem Funkscanner noch so alles anstellen?
Ich recherchierte intensiver. Aha, man konnte ihre Frequenz auf die Frequenz von Minisendern einstellen, die man Gott weiß wo in fremden Wohnungen versteckte. So also ließen sich harmlose Mitbürger abhören, auch, wenn sie hinter noch so dicken Mauern wohnten.
Toll, dachte ich, gleich kriegt deine Paranoia Flügel und du flatterst der Sonne entgegen.
Doch da war immer noch das Klicken in den Zimmern meiner Wohnung. Klickten Wanzen, wenn sie sich einschalteten? Einen Moment lang grübelte ich beunruhigt über meine Aktivitäten der letzten Wochen nach. Innerhalb der Wohnung, meine ich. Irgend etwas, das das Licht der Öffentlichkeit zu scheuen hatte?
Okay, dachte ich dann nach einer plötzlichen Eingebung. Wenn dich, rein theoretisch natürlich nur, ein Funkscanner abhören kann, kannst du selbst, natürlich ebenfalls nur rein theoretisch, die Minisender, so es denn welche gibt und wer auch immer sie versteckt haben mag, ebenfalls mit einem Funkscanner aufspüren.
Ich bestellte mir über das Internet ein Handgerät im Elektronikhandel. Die vierzehn Tage, die ich auf die Lieferung wartete, genoss ich die Vorzüge meines neuen, schnurlosen Telefons. Bis mir auffiel, dass jedes Mal, wenn es klingelte, von irgend wo durch Wände oder Decken ein lauter Ton zu hören war.
Zufall?, fragte ich mich beim zehnten Mal.
Ich ging ins Internet. Schon wieder. Schnurlose Telefone senden ebenso wie Handys innerhalb bestimmter Funkfrequenzen. Wer immer einen Funkscanner besitzt, braucht diese Frequenzen nur absuchen, sowie er durch die Wand hindurch das Klingeln eines Telefons hört. Der Scanner hält in seinem Suchlauf inne. Wer-auch-immer drückt die Hold-Taste, speichert die Frequenz ab, und hat darüber hinaus noch die Möglichkeit, eben dieser Frequenz eine Priorität zuzuordnen. In diesem Fall ignoriert der Funkscanner andere Frequenzen, auf denen parallel geredet wird und schaltet sofort auf die Prioritätsfrequenz um. Dann setzt man seine Kopfhörer auf und hört dem Telefonat zu. So einfach ist das.
Einfach? Klar, dachte ich. Rein theoretisch oder für Funkamateure schon, aber für uns Laien wohl kaum. Mein Funkscanner kam, ich arbeitete mich durch die kurze Bedienungsanleitung, dann startete ich den Suchlauf. Scannen ist erlaubt, solange man nicht die sogenannten BOSS-Kanäle abhört wie Polizei, Feuerwehr, Rettung etc. Tat ich nicht, ich suchte nach Wanzen. Was ich fand, waren ein paar Kanäle mit Funkamateuren, die sich über ihre Anlagen austauschten. Die Funkfrequenz für Wanzen stand nicht auf der mitgeschickten Frequenzliste, und so fand ich auch keine.
Dafür fand ich etwas anderes. Am späten Nachmittag geriet ich auf irgend einer Frequenz an eine Frau, die ihrem Vater gerade erzählte, was sie zum Abendessen kochte, und ihn dann fragte, ob sie ihn später zurückrufen könnte.
„Ich kann jetzt nicht solange telefonieren,“ sagte sie. „Meine Kartoffeln brennen gleich an. Bist du gegen acht zu Hause?“
Ich erstarrte und griff hastig zur Frequenzliste. Mein Funkscanner stand im Frequenzbereich für schnurlose Telefone! Wenn ich diese Frequenz eingespeichert und darüber hinaus den Scanner dahingehend programmiert hätte, dass er nicht nur im Suchlauf inne hält, sobald die Frau zum Telefon greift sondern auch noch einen lauten Ton von sich gibt (nur ein Handgriff), könnte ich ihr den Rest meines oder ihres Lebens beim Tefonieren zuhören. Tag und Nacht, vorausgesetzt, ich ließ den Funkscanner durchlaufen.
Geschockt stellte ich den Scanner aus. In diesem Moment klingelte mein eigenes Telefon und von irgendwo durch Wände oder Decken gab es einen lauten Ton. Rein theoretisch könnte es natürlich trotz allem Zufall sein, doch rein theoretisch könnte einiges, was mir geschah, dem Zufall zugeordnet werden (mit Ausnahme der anonymen Anrufe, der Beschimpfungen, der selbständigen Umorientierung meiner Stromschaltkreise etc. etc.), nur die Häufung derartiger Zufälle lässt den Vorsatz wahrscheinlicher erscheinen. Vorsichtshalber schaffte ich jedenfalls das schnurlose Telefon wieder ab. In den nächsten Tagen hörte ich über Scanner mein eigenes Radio und mein eigenes Fernsehen. Mir wurde schnell klar, so lautlos ich mich nach außen hin auch in meiner Wohnung bewegte, so transparent wurde mein Tun unter Umständen für Außenstehende.
Der berühmte gläserne Mensch ist keine Zukunftsvision mehr, es gibt ihn bereits.
Wenn heute mein Telefon klingelt, gibt es von nirgendwo her mehr einen Ton, nur klickt mein Festnetzanschluss wieder, und jedes dritte oder vierte Mal ist das Gespräch einfach weg, was ich erst daran merke, dass ich rede und rede, aber keine Antwort mehr erhalte. Es gibt kein Freizeichen, kein Besetztzeichen, kein Nichts. Das Telefongespräch ist einfach weg. Was bleibt, ist aufzulegen und neu anzurufen.
Im letzten Herbst spazierte ich an einem schönen Tag durch den Bürgergarten, Hamelns Stadtpark. Ich schlenderte gerade einen schmalen Weg dicht am Begrenzungszaun hinunter, als ich schnelle Schritte hinter mir hörte. Im nächsten Moment bekam ich einen Schubs, der mich im Beet landen ließ, und während ich noch mit meinem Gleichgewicht und der Schwerkraft kämpfte, hörte ich von dem Kerl, der mich geschubst hatte, ein deutliches: "Verpiss dich aus Hameln."
Sehen konnte ich den Kerl nur von hinten, groß, hager und Kapuzenshirt, dann war er auch schon zum Tor hinaus und hinter der hohen Hecke verschwunden. Ich zog es vor, ihm nicht hinterherzulaufen sondern bemühte mich lieber, die Scherben meines Egos aufs neue zusammenzukitten. Ein paar Tage später ging ich nach Einbruch der Dunkelheit in der kleinen Siedlung spazieren, als mir plötzlich einfiel, dass ich vergessen hatte, die Waschmaschine anzustellen. Ich machte abrupt auf den Hacken kehrt und blieb erschrocken stehen. Etwa fünf Meter hinter mir ging ein Mann, der bei meinem Herumfahren ebenfalls erschrocken stehen blieb und hektisch versuchte, sein Gesicht abzuwenden. Im nächsten Moment fuhr auch er auf den Hacken herum und rannte wie ein Wiesel von dannen.
Vor ein paar Woche stellte ich vor dem Haus das Fahrrad ab und hörte aus einem offenen Fenster jemanden sagen, es würde ja nun Zeit, dass man mich aus dem Haus bekäme.
An eben dieser Stelle endet vorerst mein Bericht. Er ist nicht vollständig. Die gravierendsten Ereignisse der vergangenen drei Jahre muss ich leider aus verschiedenen Gründen aussparen. Alles, was nicht nur mich allein betrifft, habe ich zum Schutz beteiligter Personen und mit Rücksicht auf laufende Prozesse ausgelassen.
Manchmal, wenn ich mit starken Herzrhythmusstörungen in meiner Wohnung am Schreibtisch sitze, frage ich mich nach dem Ziel der Aktion. Soll ich von einer Wohnung in die andere gehetzt werden, eine Endlosschleife quer durch Deutschland? Soll in den Selbstmord getrieben werden?
Im Vorfeld habe ich versucht, die Veröffentlichung dieser Seiten zu vermeiden. Ich habe allen Hamelner Beteiligten die Chance eingeräumt, sich mit Anstand zurückzuziehen. Ich habe den DARC, den Deutschen Amateur Radio Club angeschrieben und um Schützenhilfe gebeten. Geantwortet hat er nicht. Ich habe ihn ein zweites, ein drittes Mal angeschrieben – mit dem gleichen Resultat. Die Stellvertreter der beiden Ortsvereine der Funkamateure in Hameln, die ich anmailte, mailten nett zurück, doch eher mit dem Spruch von Uwes Tantchen:
Hameln ist nicht Berlin, hier passiert so etwas nicht.

(Wird fortgesetzt ...)