Die Eskalation

Der von der Genossenschaft gesetzte Termin zur Überprüfung von Herrn K.'s Antenne verstrich ohne Überprüfung. Die neue Wohnung bekam ich ebenfalls nicht. Eine Begründung hierfür sparte sich die Sachbearbeiterin, aber sie gab sich Mühe, in ihr Lächeln eine Spur Bedauern zu zaubern. Mittlerweile fragte ich mich, wo ich denn auf Verständnis stoßen könnte, wenn nicht in einer Genossenschaft, die für sich das Motto Einer für alle und alle für einen beanspruchte. Die Sachbearbeiterin wusste keine Antwort darauf, und meine Drohung, mir in dieser für mich ausweglosen Situation Hilfe bei den Nachbarn holen zu müssen, tat sie mit einem gleichgültigen Schulterzucken ab.
In diesem Moment schwappte mein ganz persönliches Geduldsfass einfach über. Da waren diese Idioten über und unter mir, die sich jeden Tag und jede Nacht allein schon deshalb der Körperverletzung im jurstischen Sinne schuldig machten, indem sie mich gezielt nicht schlafen ließen (von der Mikrowellenberieselung inklusive des möglichen Krebsrisikos ganz zu schweigen), da war die Genossenschaft, die mir ihre Hilfe verweigerte, da war ich, die ich einfach nicht mehr konnte.
Ich setzte mich an den Laptop und schrieb die Nachbarn in den beiden Häusern links und rechts an. Ich schilderte ihnen mein Problem und legte einen Zettel für eine Unterschriftenaktion zum Abbau der Antenne bei.
Der Rücklauf überraschte mich. Zuerst besuchte mich eine Frau aus dem Haus, die seit einem Jahr von ihrem Arzt wegen plötzlich aufgetauchter nervöser Unruhe und Schlaflosigkeit behandelt wurde. Sie unterschrieb, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass ich nicht nur einem armen blinden Mann eins auswischen wollte. Wahrscheinlich guckte ich selbst mittlerweile ziemlich grimmig. Und ehrlich gesagt, wurde der Wunsch nach einer Kalaschnikov beinahe übermächtig.
Drei weitere Mietparteien unterschrieben, ohne mich persönlich zu kontaktieren. Dann bekam ich einen Anruf meines Wand-an-Wand-Nachbarn im Nebenhaus, der ebenfalls unter Schlaflosigkeit litt, aber nicht unterschreiben wollte. Desweiteren erreichte mich ein Brief eines älteren Herrn aus demselben Nachbarhaus, der mir die gesundheitlichen Beschwerden seiner Frau schilderte, aber nicht wusste, ob sie mit der Antenne zusammenhingen und mir im folgenden wohlgemeinte juristische Ratschläge erteilte.
Das Ergebnis der Unterschriftenkaktion: mit mir forderten fünf Mietparteien den Antennenabbau. Negative Reaktionen, Beschimpfungen oder ähnliches blieben zu meiner großen Erleichterung aus.
Dafür nahmen die Aktivitäten auf dem Dachboden über mir zu. Ein 24-Stunden-Rundumservice setzte ein. Alle drei Stunden erfolgte eine Ablösung, und einem meiner treuen Wächter lauerte ich nach seinem Dienstende auf und folgte ihm nach Hause. Wenig überraschend für mich, ragte eine Funkantenne vom Dach, und ich fragte mich besorgt, wieviele der Berliner Funkamateure ich wohl gegen mich aufgebracht hatte. Hätte ich zu diesem Zeitpunkt gewusst, dass meine Gegenwehr deutschlandweit Auswirkungen haben sollte und dreieinhalb Jahre später noch immer geahndet wurde, wäre ich damals vielleicht nicht davor zurückgeschreckt, mir in der Badewanne die Pulsadern aufzuschneiden.
Das Knacken im Telefon blieb mir erhalten. Ich rief von einer Telefonzelle aus die Telecom wegen einer Überprüfung an.
"Gern", sagte die freundliche Mitarbeiterin. "Aber wir können nur überprüfen, wenn Sie uns von Ihrem Haustelefon aus anrufen."
Ich tat es, das Knacken hörte nach meinen einleitenden Worten auf. Wen wundert's!
"Alles in Ordnung", sagte die freundliche Mitarbeiterin zwei Minuten später. "Der Anschluss ist frei."
Nach zehn Minuten klingelte mich ein Freund an, das Knacken setzte wieder ein.
Ich gewöhnte mir an, mit meinen Bekannten weniger übers Telefon als vielmehr über E-Mails zu kommunizieren, schließlich war ich seit einem Jahr stolzer Besitzer eines Internetzugangs über Modem und einer eigenen E-Mail-Adresse. Eines Abends saß ich in einer Ecke meiner Wohnung, während mir die bekannte Elektrosmogwolke vom Dachboden den Scheitel und die von unten die Füße wärmte. Doch die Seite, die aufgerufen wurde, war nicht meine sondern die eines gewissen Herrn Sowieso. Ein Herr Sowieso gleichen Namens, das wusste ich von meiner Unterschriftenaktion, wohnte im Nachbarhaus eine Etage tiefer. Ein Vater mit zwei fast erwachsenen Söhnen. Die Söhne waren mit Funkamateur K. befreundet und fanden sich abends öfter auf ein lautstarkes Bierchen in seiner Wohnung ein. Sie und ich teilten uns gewissermaßen die Fußleisten über die gesamte Breite meiner Wohnung.
Während ich noch verblüfft guckte, verschwand die fremde Internetseite wieder, und mein unsichtbarer Geist katapultierte mich aus dem Internet raus.
Toll, dachte ich, jetzt hat deine Paranoia ihren Höhepunkt erreicht.
Ich rief ein zweites Mal meine E-Mails auf.
Diesmal erschien tatsächlich meine Seite: Sie haben 0 neue E-Mails. Ich war frustriert, aber nicht wirklich erstaunt. Bei all den verrückten Geschichten, die ich Freunden und Bekannten erzählte, war es kein Wunder, dass sie ihre diplomatischen Beziehungen zu mir auf ein Minimum beschränkten. Halbherzig klickte ich trotzdem den Posteingang an. Und hoppla - ich hatte in den letzten drei Tagen, die ich nicht im Internet gewesen war, vier neue E-Mails bekommen. Nur war jede einzelne E-Mail bereits geöffnet worden. Wenn auch nicht von mir.
Eines Tages stolperte ich schon Mittags in meinem Stadtteil aus dem Bus und schleppte mich auf mein Haus zu. Ich war in der Staatsbibliothek vor Übermüdung eingeschlafen und hatte meinen Laptop vom Tisch geragt. Der Krach hatte all die anderen Schläfer geweckt und zu allseitigem Murren geführt. Doch plötzlich blieb ich mitten auf dem Zebrastreifen wie angenagelt stehen. Ein Kleintransporter stand vor unserer Tür, der Funkamateur K.'s Sachen einlud, und - dem Herrn sei's getrommelt und gepfiffen - die Funkantenne wurde gerade abgebaut. Meine Erleichterung kannte keine Grenzen. Beinahe wäre ich meinem Atheismus untreu geworden und betend auf die Knie gefallen. Das Leiden war vorbei!
Zurück blieb trotz allem das mulmige Gefühl, einen blinden Mann aus seiner Wohnung vertrieben zu haben. Baff war ich allerdings über die Tatsache, dass Funkamateur K. in die Wohnung zog, die man mir verweigert hatte, wie mir ein Nachbar im Treppenhaus verriet.
Warum einfach, wenn es auch umständlich geht, dachte ich genervt. Hätte man mir die Wohnung nicht verweigert, wäre es zu keiner Unterschriftenaktion gekommen. Ich wäre umgezogen, Funkamateur K. wohnen geblieben, und es hätte für alle gepasst. Und so, dank der Genossenschaft ...
Kopfschüttelnd sah ich dem Umzug von meinem Balkon aus zu. Okay, dachte ich abschließend. Kapitel abgeschlossen, hak's einfach ab - dein Leben beginnt wieder.
Ich hatte mich zu früh gefreut. In die Wohnung von Funkamateur K. zog ein Mensch mit Glatze und Springerstiefeln, und da noch immer die Jungs aus dem Nachbarhaus dort ein und aus gingen, lag die Vermutung nahe, man habe sich schon vorher gekannt. Die Schritte auf dem Dachboden blieben mir erhalten, die warmen Flecken in meiner Wohnung wurden ein wenig wärmer, und wenn ich in meiner Wolke stand, die mir nach wie vor wie ein treuer Hund folgte, brach mir noch schneller als zuvor der Schweiß aus.
Ich bin ein friedfertiger Mensch, ein Krebs mit großem Harmoniebedürfnis (wenn man den Astrologen glauben darf), und mit wenig Bereitschaft zu offener Konfrontation. Im Prinzip das ideale Opfer. Trotzdem hatte ich gekämpft, soweit es mir möglich war, und den Kampf verloren. Am Höhepunkt meiner Verzweiflung hatte ich mit einer Rasierklinge in der Hand in der Badewanne gesessen, um den Wahnsinn einfach nur zu beenden, und mich dann doch nicht getraut.
Aber jetzt, zu genau diesem Zeitpunkt, war ich nur noch wütend. Ich wollte mein Leben zurück. Ich hatte Pläne für die Zukunft, und die schlossen einen Abtransport im Sarg nicht mit ein. Ich wollte weder durch eigene Hand noch am Herzinfarkt noch durch Krebs aufgrund von Mikrowellenbestrahlung sterben. Es reichte, dass mich Familie und Bekannte mittlerweile wie einen Psychiatriepatienten mit Ausgang behandelten. Je mehr ich erzählte, desto stiller wurden sie, und desto mehr fühlte ich mich tatsächlich verrückt. Der Funker war weg, wie konnte ich da noch immer in meiner Elektrosmogwolke sitzen und Schritte auf dem Dachboden hören?
Doch ich hörte sie! Jeden Tag und jede Nacht. Und so stürmte ich erneut ins Büro der Genossenschaft und verlangte einen Schlüssel für eben diesen Dachboden. Es gab zwei Zugänge zum Dachboden. Der eine war im Nachbarhaus und wurde nachts gern und häufig benutzt, da auch nach dem Auszug des Funkers irgend ein Jemand dazu einen Schlüssel hatte. Der zweite Zugang führte ührte über eine kleine Treppe direkt vor meiner Wohnungstür nach oben und war, wie es für einen Berliner Dachboden in einem Mietshaus vorgeschrieben ist, zugeschlossen. Ich hatte schon mehrfach vergeblich an der Türklinke gerüttelt, wenn ich oben Schritte hörte.
Sonderbarerweise bekam ich nach nur wenigen Kämpfen von der Sachbearbeiterin der Wohnungsgenossenschaft tatsächlich einen Schlüssel für eben diesen Zugang und verabschiedete mich verblüfft. In der folgenden Nacht wartete ich, bis um drei Uhr morgens eine Wachablösung über mir erfolgte, dann schlich ich die Treppe hoch, stieß den Schlüssel ins Loch und ...
Auf dem Dachboden setzte hektisches Fußgetrappel rüber zum Nachbarhaus ein. Die Jungs hätten sich Zeit lassen können, der Schlüssel passte nicht.
Ich brachte ihn zurück zur Verwaltung und verlangte den passenden Schlüssel.
"Das ist der einzige, den wir haben", sagte die Sachbearbeiterin lächelnd. "Tut mir Leid."
"Wenn es Ihnen lieber ist, komme ich mit der Polizei oder einem Reporter der BILD zurück", entgegnete ich und zwang mich ebenfalls zu einem Lächeln. "Was die Jungs da oben Tag und Nacht treiben ist Körperverletzung. "
Eine Minute später hielt ich einen anderen Schlüssel in Händen, den richtigen, wie ich hoffte. Dass ich ihn so rasch bekam, lag mit Sicherheit nicht an der Erwähnung der Körperverletzung sondern an den magischen Wörtern Polizei und Medien.
In dieser Nacht erwischte ich sie oben, zwei Mann hoch. Allerdings sah ich sie nur noch in einer Staubwolke durch die zweite Tür wieder nach unten verschwinden, ohne viel mehr zu erkennen als geduckte Körper mit wirbelnden Beinen. Aber das war mir in diesem Moment egal. Am liebsten hätte ich an Ort und Stelle die Sektkorken knallen lassen. Ich war nicht paranoid, ich sah (oder hörte) keine weißen Mäuse sondern nur ein paar Idioten, die sich nächtlings auf dem Dachboden herumtrieben.
Am nächsten Morgen sondierte ich oben noch einmal die Lage, bevor ich den Schlüssel wieder abgeben musste. Über die Hälfte meiner Wohnung war kreuz und quer ein kleinmaschiges Netz aus Wäscheleinen im Abstand von vielleicht 20 cm gespannt, das wohl kaum dazu diente, Wäsche aufzuhängen. Eher ein Gerät, das auf die Dauer zu schwer wird, um es in Händen zu halten. Ein Gerät, das öfter umgehängt werden muss, weil diejenige, auf die Was-auch-immer ausgerichtet war, in ihrer Wohnung unter dem Dachboden ruhelos umherstreift.
Ich verbrachte den Tag damit, auf der Suche nach einer polizeilichen Beratungsstelle durch Berlin zu fahren. Es gab keine mehr.
"Stelleneinsparung!", sagte ein netter Kontaktbereichsbeamter, den ich in Rudow traf. "Gehen Sie zu Ihrer zuständigen Wache."
Ich ging, und stand nach zehn Minuten schon wieder auf der Straße. Die Polizei war an keinen Hilfe-meine-Nachbarn-bestrahlen-mich-Geschichten interessiert. Sie hatten mich nicht einmal in die Wache selbst gelassen sondern eine hochschwangere Polizistin zu mir raus in den Wartebereich geschickt, während mich die Männer misstrauisch durch die kugelsichere Scheibe beobachteten. Die Erwähnung von Funkamateuren trieb ihnen den Schweiß auf die Stirn.
"Hausbewohner dürfen auf den Dachboden", argumentierte die schwangere Polizistin halbherzig und hielt Abstand. "Wissen Sie was, der Einfachhalt halber ziehen Sie am besten um."
Na klasse, auf die Idee war ich noch gar nicht gekommen.
"Die dürfen sich die ganze Nacht über auf dem Dachboden direkt über meiner Wohnung aufhalten? Mit irgendetwas in der Hand, was hochfrequente Strahlung erzeugt? Einer umgebauten Mikrowelle oder ähnlichem?", fragte ich ungläubig zurück.
Die Polizistn zuckte ratlos die Achseln und scheuchte mich vorsichtig nach draußen. "Ziehen Sie um, gegen die kommt eh' niemand an."
Ich starrte sie geschockt an. Sollten die Funkamateure mittlerweile die Regierung übernommen haben, und ich hatte den Umsturz einfach verpennt?
Eins wollte ich noch wissen, bevor ich mich erneut auf die Suche nach einer neuen Wohnung machte. Wurde meine jetzige Wohnung tatsächlich abgehört? Lauschte da irgend jemand, wenn ich heulend in der Ecke lag oder Oh, when the saints go marching on ... zur Gitarre sang? Tatsächlich hörten die Schritte auf dem Dachboden auf nach meinem Sturmangriff, doch dafür kamen die warmen Flecken jetzt verstärkt von unten, aus der Wohnung, mit der ich mir die Fußleiste teilte. Der Vater mit den zwei Söhnen, und einmal, als ich aus einem Minutenschlaf um vier Uhr morgens von meinem eigenen Schnarcher aufwachte, hörte ich von genau dort brüllendes Gelächter.
Ich überlegte hin und her, wie ich es anstellen könnte, dass die Jungs aus ihrer Deckung kamen und sich offen zu erkennen gaben. Nicht, dass es mir geholfen hätte, irgendetwas zu beweisen, aber es wäre für mich persönlich eine Bestätigung gewesen. Mein Ego lag zertreten am Boden, und die Blicke, mit denen mich Familienmitglieder und Bekannte musterten, gefielen mir schon lange nicht mehr. Über das Wort "Abhören" gingen sie schweigend hinweg und sprachen mit mir lieber über das Wetter.
Die Idee kam spontan, als mir in einer Elektrosmogwolke der Schweiß wortwörtlich über das Gesicht lief und auf den Boden tropfte. Ich gebe zu, sie war nicht besonders gut durchdacht, und könnte (rein theoretisch) am folgenden Desaster die Schuld tragen. In diesem Moment war sie lediglich die verzweifelte Ausgeburt eines Geistes, der schon lange keinen Schlaf mehr bekommen hatte.
Ich inszenierte ein Telefongespräch und zwar nicht über die Haus-Telefonleitung, sondern über ein imaginäres Handy. Ich hatte keins. Ich gehörte zu den Exoten in Deutschland, die nicht überall und zu jeder Zeit erreichbar sein wollten.
"Boris", sprach ich forsch in das nicht vorhandene Handy. "Du bist doch aus dem Knast wieder raus, also hast du vielleicht Interesse an einem neuen Auftrag?"
Ich legte eine Pause ein, um Boris, den es nicht gab, Gelegenheit zu einer Antwort zu geben.
"Okay, du bist also interessiert. Pass auf, ich habe hier ein kleines Problem mit ein paar Nachbarn. Wenn Sie mich nicht ab sofort zufrieden lassen, zahle ich dir zweitausend Euro pro Kopf, wenn du für mich einen bestimmten Funkamateur und noch den einen oder anderen seiner Freunde über den Haufen schießt."
Es gab keinen Boris, ich kannte keinen Auftragskiller, ich hatte keine zweitausend Euro, aber ich hegte zwei Hintergedanken bei diesem fingierten Anruf. Erstens wollte ich wissen, ob mir jemand zuhörte, wenn ich in meiner Wohnung Laut gab. Zweitens dachte ich, wenn Funkamateur K.'s Freunde so blöd waren, das Telefonat ernst zu nehmen (woran ich keine Minute lang ernsthaft glaubte), mussten sie mich von diesem Moment an tatsächlich zufrieden lassen, weil ihnen als seine Freunde an Funkamateur K.'s Wohlergehen und an ihrem eigenen gelegen sein müsste.
Das Ergebnis war unglaublich: ganz offenbar kroch mein Ego völlig umsonst um meine Füße herum. In meinen Augen war ich seinerzeit nicht mehr als ein elender Versager, der sich ganz umsonst bemüht hatte, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Ein Jammerlappen, der nicht in der Lage war, diesen Idioten einfach die Tür einzutreten, sie bei der Kehle zu packen und zur Rede zu stellen. In den Augen der anderen war ich jedoch offenbar eine Art Mafiosa mit hervorragenden Verbindungen zur Unterwelt. Im Nachhinein weiß ich noch immer nicht, ob ich mich geschmeichelt fühlen soll, obgleich ich nach wie vor eher glaube, ich lieferte ihnen endlich einen Grund, gegen mich mit all der Härte und all dem Vergnügen vorzugehen, dass ihnen die Jagd in der Meute versprach.
Wie auch immer. Vielleicht war es die Unterschriftenaktion gegen einen der 57.000 in Deutschland lebenden Amateurfunker, vielleicht aber auch nur dieses eine Telefonat, das es nie gegeben hat, was die Lawine auslöste - Tatsache ist jedoch, dass sie auch heute, drei Jahre später und 350 km von Berlin entfernt, noch immer nicht zum Stillstand gekommen ist.
Als ich am nächsten Morgen über die Straße zum Zeitungskiosk ging, um wie jeden Tag die Wohnungsangebote zu durchforsten, hatte ich einen der Söhne von Herrn Sowieso aus dem Nachbarhaus auf den Fersen. Und wenn ich sage "auf den Fersen" meine ich das auch so. Wir gingen mit Körperberührung über die Ampel, er etwa einen halben Schritt hinter mir, während die Augen der Zeitungsverkäuferin im Kiosk groß und rund wurden. Ich fuhr nicht weniger ungläubig herum, und geriet bei dem bitterbösesten Blick, der mich je getoffen hatte, spontan ins Lachen. Am Kiosk blieb er hinter mir stehen, dann schritten wir, wie gehabt, über die Straße zurück zu meiner Haustür, wo er mich verließ.
Sieh an, dachte ich nach einer Weile, als ich wieder denken konnte. Irgendjemand hört dir also doch zu, wenn du in deiner Wohnung Laut gibst. Du drohst in einem fingierten Telefonat, und sie reagieren und versuchen dich auf offener Straße einzuschüchtern.
Einen Tag später hatte ich den Bruder des Jünglings auf den Hacken, der jedoch, als ich in einer Überraschungsattacke herumfuhr, erschrocken zurückwich und sich zu einem Körperkontakt nicht aufraffen konnte. Allerdings folgte er mir den ganzen Tag über treu wie ein Hund. Tag Nummer 3 war der Glatzkopf mit den Springerstiefeln an der Reihe und ich rettete mich in die Telefonzelle neben dem Kiosk, wo ich ein fingiertes Telefongespräch mit der Polizei führte. Der Herr mit den Stiefeln blieb in gehöriger Entfernung unschlüssig stehen, bevor er sich für den taktischen Rückzug entschied.
"Kann es sein, dass Sie irgendwie Ärger haben?", fragte mich die nette Kioskbesitzerin vorsichtig.
In der Folgezeit gab es jede Menge Auf und Ab's. Als Herr Sowieso mich eines Tages zum Park schlurfen sah, bog er mit seinem Fahrrad vom Fahrradweg ab und hielt geradewegs auf mich zu, so dass ich mich gezwungen sah, in die Büsche zu hüpfen. Nachts wurde bei mir angerufen, geklingelt und an der Türklinke gerüttel. Währenddessen suchte ich sie mit meinen fingierten Telefonanrufen in Schach zu halten, hetzte ganze imaginäre Schlägertrupps auf mal den einen, mal den anderen, tat, als riefe ich unsere uniformierten Freunde und Helfer an. Manchmal half es für eine kurze Zeit, aber da keine Polizei kam, weil ich keine rief, und da keiner dieser Idioten mit einer Kugel im Kopf aufgefunden wurde, bewirkte es eher das Gegenteil.