Die Antenne

"Sprich mit ihm!", forderte Uwes Tantchen. "Man kann mit jedem Menschen reden."
In diesem Fall nicht. Funkamateur K. beschied mich, umzuziehen, sollte ich Schwierigkeiten haben, und knallte die Tür seiner Wohnung im Erdgeschoss zu.
Okay, dachte ich. Blind hin oder her, wenn er dir nicht zuhören will, kriegt er's eben schriftlich. Was den Vorteil hatte, dass ihm irgend ein Jemand den Brief vorlesen musste. Damit aber wurde ein Dritter über mein Leiden informiert und würde - hoffentlich - dem Funkamateur ins Funkergewissen reden.
Mittlerweile recherchierte ich im Internet. Funkamateure basteln gern, Funkamateure sind innovativ, und die meisten von ihnen reisen auf ihren Funkwellen so weit es nur geht. Bekommen sie Kontakt zu anderen Funkamateuren, wo auch immer, tauschen sie so etwas wie Grußkarten mit ihren Rufnummern aus. Weiterhin gibt es Wettbewerbe, wer die meisten Kontakte auf welcher Wellenlänge hat oder wer am weitesten gefunkt hat. Und man kann (wie auch immer) Diplome wie z.B. das Hexendiplom etc machen. Ein schönes, harmloses Hobby an und für sich, das der Völkerverständigung dienen sollte.
Aber es gibt auch Gesetze. Eins davon betrifft die Elektromagnetische Verträglichkeit von Funkanlagen. Es gibt Grenzwerte der Ein- und Ausgangsleistungen einer Antennenanlage bzw. Sicherheitsabstände, die bei bestimmten Leistungen zu den Nachbarn eingehalten werden müssen. Je nach Wellenlänge sind sie unterschiedlich groß bzw. klein.
Ha, dachte ich. Damit die Nachbarn schlafen können, keine Kopfschmerzen haben und nicht gegen Wände rennen.
Ich hatte von technischen Dingen wenig Ahnung, ergo waren für mich die Formeln zur Errechnung der Sicherheitsabstände aufgrund der Ein- oder Ausgangsleistung einer Antenne böhmische Dörfer. Funkamateur K. aus dem Erdgeschoss reagierte auf meinen ersten Brief nur insofern, als meine Kopfschmerzen zunahmen und sich das Kribbeln verstärkte. Also forderte ich ihn in einem zweiten Versuch auf, seine Antenne von der zuständigen Behörde, welche auch immer das war, überprüfen zu lassen. Diesmal schickte ich ein Einschreiben.
Nach diesem zweiten Versuch der Kommunikation per Post dramatisierte sich meine Lage deutlich. Es war nicht mehr nur so, dass sich meine Funkuhr verstellte, ich nicht mehr schlafen konnte, Kopfschmerzen und Angst um meine Zähne hatte, mich Übelkeit und Schwindel überfielen und ich noch immer gegen meine Flurwände prallte. Das nächtliche Kribbeln wich urplötzlich einem scharfen Prickeln am ganzen Körper, das mich verdächtig an die Reizstromtherapie erinnerte, die mir Wochen zuvor wegen einer Entzündung der Achillessehne am Fuß verschrieben worden war. Vielleicht glaubte der Funkamateur, für eine bessere Durchblutung meiner Haut sorgen zu müssen, doch ich wollte keine besser durchblutete Haut, ich wollte endlich mal wieder schlafen.
Ich fuhr zu Conrad, dem Elektronikfachhandel in der Hasenheide, und kaufte nach fachmännischer Beratung ein Trifieldmeter, ein Gerät, das elektromagnetische Felder nach Feldstärke und Frequenz misst. Die Messergebnisse werden in einen Indexwert für das mögliche Gesundheitsrisiko durch Elektrosmog umgerechnet. Es gibt eine gepunktete rote Markierung (signifikante Belastung) und eine durchgezogene Linie: Aufenthaltsdauer im betroffenen Bereich so kurz wie möglich halten.
Meine Küche - über ihr die Antenne, vor dem Fenster die Kabel - befand sich komplett im durchgezogenen Bereich, Wohn- und Schlafzimmer waren gestrichelt. Zu gut deutsch hieß das: halte dich in der Küche, wenn überhaupt, so kurz wie möglich auf. Im Rest meiner Wohnung durfte ich mich immerhin stundenweise aufhalten. Das Ergebnis war allerdings angesichts all meiner Beschwerden kein unerwartet großer Schock mehr, lediglich eine Bestätigung des gefühlten Zustands.
Ich informierte die Genossenschaft mithilfe einer Wochentabelle der Messwerte. Sie reagierte prompt und schickte zwei Ingenieure vorbei, die das Trifieldmeter testeten, für gut befanden und nach einem Probedurchlauf erstaunt feststellten, im unmittelbaren Umkreis meiner Wohnung werde tatsächlich gefunkt und zwar tüchtig.
Meine Schwierigkeiten wundere ihn nicht, beschied mir Ingenieur Nummer eins, während sich Nummer zwei beeilte, mir die technischen Details nachzuliefern: Es handele sich zu allem Überfluss auch noch um die Überschneidung zweier elektromagnetischer Felder. Da sei das Feld von der Antennenanlage an sich, was sich von oben auf meine Wohnung ausdehne. Schließlich befände sich die Unterkante der Anlage keine zwei Meter über meinem Kopf. Und da sei zweitens das elektromagnetische Feld, das von den drei dicken Kabeln abstrahlte, die vor meinem Küchenfenster harmlos im Wind schaukelten und bis ins Erdgeschoss hinunterreichten. Im Überschneidungsbereich beider Felder aber verlöre ich wohl das Gleichgewicht. Außerdem handele es sich bei der zu überprüfenden Anlage um eine ausgesprochen leistungsfähige Funkanalage, die zudem direkt auf dem Dach aufsitze. Kein Abstandshalter, kein Nichts.
Als ob ich das nicht schon selbst gewusst hatte. Aber ich war Frau, ich war blond, also lächelte ich dümmlich und fragte: "Und nun?".
Sie zuckten die Achseln, versprachen sich wieder zu melden und entschwanden.
Wochenlang passierte nichts! Erst nachdem ich dem Vorstandsvorsitzenden der Genossenschaft zwei Einschreiben schickte und, am Ende meiner Kräfte, damit drohte, an die Öffentlichkeit zu gehen, erschien er höchstpersönlich in meiner Wohnung, flankiert von den beiden, mir wohlbekannten Ingenieuren.
Hey, dachte ich und lächelte den Beiden zu. Deine Rückendeckung ist da!
Pustekuchen. Die beiden Ingenieure litten im Beisein des Vorstandsvorsitzenden ganz plötzlich an akutem Gedächtnisschwund. Messungen? Wir? Aber nicht doch. Und überhaupt tauge dieses Trifieldmeter gar nichts.
"Und sehen Sie, Frau M.", triumphierte der Vorstandsvorsitzende. das Messgerät in der Hand. "Es zeigt überhaupt nichts an."
Das stimmte, wie ich zähneknirschend zugeben musste. An diesem Tag, zur speziellen Stunde meines hohen Besuchs, war die Antenne ausgestellt. Kein Funken, kein Ganzkörperprickeln, keine jaulenden Zahnnerven, keine Kopfschmerzen, kein Ausschlag auf dem Trifieldmeter, dafür drei grinsende Besucher. Ich kam ins Grübeln. Wenn ich an neunundneunzig Tagen heftigstes Funken messe und am Tag des Vorstandsbesuches der Zeiger auf Null bleibt, ist etwas faul im Staate Dänemark. Nachdem sich die Ingenieure noch alle Mühe gaben, mich mit ihren Kenntnissen der elektromagnetischen Welt in Grund und Boden zu reden, zogen sie ab. Der Vorstandsvorsitzende allerdings mit einem mittlerweile gequälten Lächeln, denn die dreiste Behauptung des einen Ingenieurs, UKW-Strahlung sei langwellige Strahlung, traf selbst bei uns Laien auf ungläubiges Staunen.
Dafür hatten die drei Männer ihre Lektion in psychologischer Kriegsführung gelernt: die ganze Stunde lang, die sie in meiner Wohnung waren, weigerten sie sich, sich zu setzen. Da alle drei über einen Kopf größer waren als ich, sah ich mich gezwungen, sechzig Minuten lang zu ihnen aufzublicken, was meiner Psyche nicht wenig zusetzte. Immerhin versprach mir der Vorstandsvorsitzende, ein klärendes Gespräch mit Funkamateur K. zu führen.
Eine Stunde nach ihrem Besuch ging die Amplitude des Ausschlags auf dem Trifieldmeter bereits wieder über die gesamte Messskala. Die Antenne war wieder an.
Das Gespräch zwischen Genossenschaft und Funker zeigte Wirkung, wenn auch nicht die erwünschte.
Die Reizstromtherapie meiner Haut wurde durch eine aggressive Nadelstichtherapie abgelöst. Die Nadeln reichten tiefer als der Reizstrom, bohrten sich durch die Haut direkt in Muskeln und Nerven und entlockten mir ab und an kleine, spitze Schreie. Gleichzeitig setzte eine Flut anonymer Anrufe ein. Das Telefon klingelte mehrmals pro Tag und auch in der Nacht, und was mich wohl zu Tode erschrecken sollte, war das bescheidene Schweigen von Seiten der Anrufer. Zugegeben, lästig war es schon, immer wieder hoffnungsfroh seinen Namen in den Hörer zu rufen und am anderen Ende nichts als wütendes Atmen zu hören, aber von Montag bis Samstag weilte ich schließlich in der Staatsbibliothek, und nachts hatte ich kein Problem damit, mein Telefon einfach abzustellen. Zu der Zeit hatte ich noch ein altes Telefon, ohne Anruferkennung und Display. Beides legte ich mir erst zwei Wohnungen später zu, als ich dreihundertfünfzig Kilometer von Berlin entfernt weiterhin belästigt wurde.
Schlimmer als der Telefonterror war, dass sich mein Kopf nicht mehr wie früher sofort erholte, sobald ich das Haus verließ sondern noch Stunden später mit Schwindel und Übelkeit zu kämpfen hatte. Nachts bekam ich massive Herzrhythmusstörungen. Einmal rief ich aus der Not heraus Funkamateur K. an, schilderte ihm meine Herzprobleme und bat ihn, doch wenigstens für den Rest der Nacht die Antenne auszuschalten. Er legte nur wortlos auf, die Antenne lief weiter.
In dieser Zeit beunruhigten mich noch zwei weitere Vorkommnisse, die sich schon bald zu Dauereinrichtungen entwickeln sollten.
"Du hast jemanden in der Telefonleitung", stellte ein Freund beim abendlchen Schnack trocken fest, nachdem wir beide dem regelmäßigen Knacken im Hörer eine Weile gelauscht hatten. "Ob das wohl dein Freund von unten oder einer seiner Kumpels ist? Wollen wir uns mal von ihm verabschieden?"
Wir riefen gemeinsam "Tschüss, Herr K." in die Hörer, das Knacken hörte abrupt auf. Wer immer dran war, hatte vor Schreck aufgelegt.
Das zweite Beunruhigende waren die Schritte auf dem Dachboden, die mich eines Nachts aus dem Halbschlummer aufschreckten. Während ich verblüfft zur Decke starrte und mich laut Dürfen-die-das? fragte, hüllte mich plötzlich etwas ein, was für mich in dieser Form neu war. Eine mobile Elektrosmogwolke von oben, die mir in der Folgezeit mit kurzer Verzögerung quer durch die Wohnung folgen sollte, sobald ich mich vor ihr in Sicherheit zu bringen suchte. Eine neue Ära hatte begonnen. Diese Wolke, so räumlich begrenzt sie war (manchmal reichte ein Schritt zur Seite und ich war draußen) hatte verheerende Folgen auf Kopf und Herz. Die Übelkeit nahm überhand, und ich neigte in der Wolke zu spontanen Schweißausbrüchen, die mir das Wasser von der Stirn in die Augen rinnen ließen und den Rest meines Körpers in Sekundenschnelle durchnässten.
Im Internet las ich von Mikrowellensendern, umgebauten Mikrowellen und ähnlichen "Waffen" gegen unliebsame Nachbarn und begann ernsthaft um meine Gesundheit zu fürchten.
Was mich jedoch beinahe stärker noch beeindruckte, war die Zielgenauigkeit, mit der mir Schritte und Wolke auf dem Weg vom Wohnzimmer ins Bad oder von der Küche ins Schlafzimmer folgten. Da mich der Kerl auf dem Dachboden, der dieses Was-auch-immer in Händen hielt, nicht sehen konnte (hoffte ich jedenfalls), musste er mich folglich hören können.
Mir standen die Haare zu Berge. Nur wenige Tage später wankte ich ins Büro der Wohnungsgenossenschaft und ließ mich auf die Liste für eine neue Wohnung setzen.
"Das kann dauern", prophezeite die Sachbearbeiterin lächelnd. "Da sind jede Menge Bewerber vor Ihnen."
Verbal fiel ich vor ihr auf die Knie, doch all mein Flehen ließ sie kalt.
Wochen später schickte sie mir per Post einen Besichtigungstermin für eine Eineinhalb-Zimmer-Wohnung zwei Straßen weiter zu, und ich schöpfte Hoffnung. Vielleicht konnte ich mich doch noch retten, bevor ich gegrillt wurde.
Sie war nicht schön, die Wohnung, aber es gab keine Funkantenne auf dem Dach und - wie ich hoffte - jede Menge friedfertiger Nachbarn, die nur eins im Kopf hatten: sich um sich selbst zu kümmern.
Also kroch ich zu Kreuze, rief eine Verwandte an, um mir von ihr Geld für den Umzug zu leihen und bewarb mich sofort um die Wohnung.
"Jede Menge Bewerber vor Ihnen", lächelte die Sachbearbeterin.
Meine körperlichen Symptome beeindruckten sie noch immer ebenso wenig wie die Verzweiflungstränen in meinen Augen. Noch einmal schilderte ich ihr die ganze Problematik, doch noch, während ich um die Wohnung bettelte, konnte ich mich des Verdachtes nicht erwehren, in dieser Genossenschaft nie wieder eine Wohnung zu bekommen. Auch Genossen mögen keine Aufmüpfigen in ihren Reihen. Offenbar ist Rausekeln in heutigen Zeiten die moderne Form des Schierlingsbechers.
"Sprich mit ihm", forderte Uwes Tantchen. "Auch ein Vorstandsvorsitzender ist ein Mensch."
Na, na, dachte ich skeptisch, schrieb aber brav an den Vorstandsvorsitzenden und schilderte meine Bemühungen um eine neue Wohnung, meinen desolaten Allgemeinzustand, meine bedrohlichen Herzrhythmusstörungen und so weiter und so fort ...
Bei der Wohnung könne er mir leider auch nicht helfen, es gehe da streng nach Reihenfolge, bekam ich als liebenswürdige Rückantwort, aber man habe Funkamateur K. aufgefordert, seine Antenne bis zum Soundsovielten durch die Regulierungsbehörde der Telecom überprüfen zu lassen. Der Soundsovielte lag noch sechs Wochen in der Zukunft.
Ich, die Schritte über mir und die Wolke wanderten rastlos durch die Wohnung und harrten gemeinsam auf eine Entscheidung. Die Wochen vergingen. Tagsüber trieben mein Laptop und ich uns noch immer in der Staatsbibliothek am Potsdamer Platz herum, wo außer mir noch 499 andere Arbeitswütige in die Tasten hieben. Wie ich schreiben konnte, ohne geschlafen zu haben, blieb mir ein Rätsel.
Mittlerweile hatte sich der mobilen Elektrosmogwolke von oben eine ebenso mobile Wolke von unten zugesellt. Die von oben ließ mir nach wie vor das Wasser aus den Haaren rinnen. Die von unten fühlte sich im Bett an, als läge ich auf einer sprudelnden Quelle, nur dass eben kein Wasser sprudelte sondern Energie. Eine Energiequelle eben. Die handgroße Stelle unter meinem Bett, wo es munter nach oben sprudelte, war mehrere Grade wärmer als ihre Umgebung und ging ebenso gern auf Wanderschaft wie die Schritte über meinem Kopf.
Es wurde ein warmer Winter, auch wenn draußen dicke Eiszapfen von den Dachrinnen hingen.